Die Begegnung mit einem toten Dichter
20.7.2001
Sumiaki Higuchi
Gestern nachmittag hatte ich ein bißchen Zeit vor einer Konferenz an meiner Hochschule. Deswegen fuhr ich von Shibuya über Sinjuku nach Asagaya, um eine Ausstellung eines Dichters zu sehen. Am Tag zuvor hatte ich in der Zeitung einen Artikel darüber gelesen. Er handelte von dem japanischen Kunststudenten Kozo Takeuchi ( 1921 - 1945), der wegen des zweiten Weltkrieges nach verkürztem Studium eingezogen wurde und in der Schlacht in Luzon( Pilippinen) mit 23 Jahren fiel. Er hinterließ Tagebücher, Briefe und Gedichte, die ein Verwandter von ihm 1998 in Buchform veröffentlichte( private Ausgabe). In dem Zeitungsartikel stand ein Gedicht, das von ihm 1942 geschrieben wurde:
Traurig ist der Kriegstod
Traurig ist der Tod der Soldaten
Deren Leben im fernen Ausland
augenblicks erlöschenDas Gedicht prophezeite sein eigenes Schicksal.
Als ich das Gedicht las, fühlte ich mich gedrungen, seine Ausstellung sehen zu gehen. Aber gleichzeitig mußte ich nachdenken, was eigentlich passiert, wenn ich einen toten Dichter durch seine verlassenen Schriften kennenlerne. Unsere Leben überschneiden sich nicht, seines ( 1921 - 1945) und meines( 1947 - ?). Aber entsteht etwas zwischen uns durch das Lesen seines Buches? Dadurch, daß ich seinen Charakter, seine Gedanken, Liebe, Freude und Trauer erfahre, indem ich seine Tagebücher und Gedichte lese ? Mein Leben erlischt immerhin auch einmal. Seines ist schon erloschen. Bedeutet es etwas, ob ich seine Ausstellung sehe oder nicht ? Ist das nicht ganz egal ? Gibt es eigentlich einen Unterschied, wenn sein Buch von mir nicht gelesen bleiben würde ? Aber Unterschied wo ? Einen Unterschied bei mir, der genauso wie er diese Welt verlassen wird ? Oder einen Unterschied in dieser Welt ? Obwohl diese Welt auch ohne mich so fest weiterzuexistieren scheint ?
Die auf der Straße vorübergehenden Menschen zeigen für meine Existenz kein Interesse. Sie würden nichts bemerken, wenn ich auch morgen sterben würde. Für sie wäre ich Nichts. Ich als Nichts lerne durch das Lesen einen toten Dichter kennen. Das ist wieder wie Nichts.
Diese nihilistische Stimmung erfüllte mich, als ich zum Bahnhof Shibuya trottete. Ich entschied noch nicht. Ich konnte die Zeit frei nutzen. An der Sperre zögerte ich noch. Um die Ausstellung zu sehen, mußte ich einmal umsteigen und vom Zielbahnhof Asagaya die Galerie/Cafe suchen gehen. Das wäre anstrengend. Endlich löste ich aber eine Fahrkarte, damit man bis nach Asagaya fahren konnte. Ich könnte aber auch woanders hinfahren. Ich fuhr zuerst nach Shinjuku. Es war gegen 15 Uhr. Auf dem Bahnhof Shinjuku gab es nicht so viele Menschen wie in der Stoßzeit, aber ich konnte doch nur schwer durch. Aber ich entschied inzwischen dafür, zumindest nach Asagaya zu fahren.
Am Südausgang des Asagaya-Bahnhofs konnte man eine Stadtkarte sehen. Die Adresse der Galerie, die im Artikel stand, war nicht vollständig. Die Galerie liegt innerhalb eines großen Bezirks, etwa 600m breit, 800m lang. Die Telefonnummer der Galerie stand zwar im Artikel, aber es war empfohlen, dem Organisator der Ausstellung eine e-mail zu schicken, wenn man Fragen hat. Gestern war sogar die Eröffnung. Fragen durch das Telefon würden sie stören. Der Gedanke entmutigte mich ziemlich , bei der Galerie anzurufen, aber ich erlaubte es mir trotzdem. Aber das Telefon war besetzt.
Ich begann auf der größten Nakasugi-Straße zu bummlen, ohne wieder anzurufen. Wenn es irgendwie so bestimmt wäre, würde ich die Galerie finden. Ich wußte, dieses Verhalten war nicht europäisch. Überließ ich mich doch einem Zufall, einem höheren Willen.
Die Straße begrenzt auf einer Seite den Bezirk. Ich dachte, wenn ich auch die Galerie nicht finden würde, würde der Spaziergang mir an sich Spaß machen. Es war 30 Jahre her, seidem ich zum letzten Mal auf dieser Straße ging. Diese wirkte ziemlich fremd. An den beiden Bürgersteigen der Straße reihen sich so hohe Keyaki-Bäume wie 6 stöckige Hochhäuser. Sie strecken von den beiden Seiten ihre hohen Zweige entgegen, so daß sie einen langen Korridor mit einer hohen grünen gewölbten Decke bilden. Das fand ich ungewöhnlich schön ! Die Autos auf der Fahrbahn fand ich störend, aber diese konnte ich leichter wegen des grünen Gewölbes ertragen als auf den anderen Straßen. Vor 30 Jahren sah diese Straße nicht so schön aus. Ich glaube, je größer die Bäume wird, desto größer wird der grüne Korridor. Jährlich wächst dieser und wird schöner, großartiger.
Fasziniert blickte ich manchmal hinauf zur hohen grünen Decke und war schon mit diesem Spaziergang zufrieden. Es lohnte sich, hierher zu kommen, obwohl ich die Galerie an dieser Straße nicht fand. Als ich den Ausgang dieses Korridors erreichte, entschied ich darüber, auf einer anderen Straße, die paralel mit diesem Korridor zum Bahnhof führt, zurückzugehen.
Das war eine engere betriebsame Geschäftsstraße, auf der kein Autos fahren dürfen. Als ich an der Straße die Galerie suchte, stellte ich mir vor, wie allmächtige Wesenheiten alles sehen würden, was auf der Erde vorkommt. Mit welch einem Lächeln würden sie mich jetzt beobachten, wenn sie mich, langsam der Galerie nähernd, sehen würden. Ich fühlte gegenwärtig die Blicke vom Himmel. Ich dachte, wenn ich an dieser Straße die Galerie finden würde, würde das bedeuten, daß ich mit dem toten Dichter etwas zu tun habe.
Aber soweit ich die Galerie nicht finden konnte, wurde meine Erwartung langsam immer schwächer ---- , da tauchte plötzlich zu meinem großen Erstaunen die Galerie auf, rechts an der Straße !
Im Cafe Cobu saßen einige Älteren, wahrscheinlich Stammgäste. An den drei Wänden hingen vergrößerte Gedichte und Fotos des Buches " Gu-no-Hata( Flagge der Torheit)". Ich setzte mich an einen freien Tisch und bestellte eine Tasse Kaffee. Neben dem Tisch an der Wand fand ich ein Exemplar des Buches zum Probelesen. Ich blätterte darin. Eine tiefe Trauer wurde sofort in meinem Inneren ausgelöst, als ich das erste Gedicht des Dichters " Knochens Elegie " las, das er einem einsam sterbenden Soldaten im Schlachtfeld widmete. Ich kaufte ein Exemplar. Ich fühlte auch schon eine interessante Verbindung mit dem toten Dichter, zu dessen Leben ich merkwürdigerweise herbeigeführt wurde.
Ich verließ das Cafe, da ich an meiner Hochschule anderthalb Stunden später eine Konferenz hatte. Im Zug las ich das Buch weiter. Als ich in seinem Tagebuch sein armes, aber optimistisches Studentenleben, ernstes Lebensgefühl , unerwiderte Lieben, den Sinn für klassische Musik, Vertrauen zu seiner älteren Schwester usw. erfahren hatte, wurde mein Gefühl des Verbundenseins mit ihm stärker und inniger. Sein Lebenraum war Tokyo, und zwar Koenji, Egota, was - ich sehr gut kenne, ich fuhr jetzt nämlich nach Egota, wo meine Musikhochschule ist. In ihrer Nähe liegt auch seine Kunsthochschule. Kurz vor der Ankunft in Egota sah ich durchs Fenster des Zuges das Gebäude der Kunsthochschule und das bestätigte wieder die starke Verbindung mit dem Dichter.
Ich fühlte mich so verbunden mit ihm, daß ich schockiert wurde, als ich am Ende des Buches ein Photo des vergilbten Zettels, der Nachricht seines Kriegstodes, sah. Er, ein Infanterist, ging den amerikanischen Panzern zu Leibe - ein grausamer Tod.
Was ich aus diesem Verbundensein mit ihm für ihn machen kann, ist wahrscheinlich, von seinem kurzen, aber intensiven Leben auf diese Weise zu berichten, zuerst im Deutschen, dann im Japanischen.