Die Venus
Tokyo, den 28.Januar 1989
Liebe Freunde !
Ich möchte Euch eine merkwürdige Geschichte erzählen, die ich vor fünf Jahren erlebt habe und jetzt noch nicht verstehen kann.
An einem Novembermorgen weckte mich sehr früh gegen halb fünf ein Licht, das mir durch einen Spalt der Gardinen gerade auf das Gesicht fiel. Zuerst hielt ich es für Mondlicht. So groß schien mir die Lichtquelle zu sein. Ich, ein kurzsichtiger, trug in diesem Augenblick keine Brille. Ich stand auf, um es genau zu beobachten.
Als ich die Gardinen aufmachte, sah ich einen schönen Stern scheinen. Er lag in Richtung nach Osten etwa 20°hoch über dem Horizont und warf goldenes Licht über den noch dunklen Himmel, an dem aber andere Sterne schon verschwunden waren. ( Meine Wohnung ist in der sechsten Etage, so daß man von dem Fenster den Horizont ohne Hindernisse dazwischen sehen kann.) In diesem Augenblick kam es mir vor, als wäre ich ein Bergmann, der zufällig einen Stein verschoben und dahinter einen glitzernden Edelstein gefunden hat. Nachdem ich später die Aufgangszeit der Planeten in einem astronomischen Buch nachgeschaut hatte, wußte ich, daß ich den Planeten Venus gesehen hatte. So hoch steigt dieser Planet nur alle 18 Monate. Ausserdem hätte er durch den Spalt nicht scheinen können, wenn er nach Süden oder nach Norden verschoben gelegen hätte !
Aber etwas noch Seltsameres fand ich nach einigen Tagen, als ich zufällig nach einem astrologischen Buch griff, um das Zeichen und den Grad, in dem sich der Planet in jenem Augenblick befand, zu erfahren. Ich fand zu meinem Entsetzen,daß er in demselben Zeichen und Grad stand wie in meinem Horoskop : im fünften Grad Sternzeichens Waage. Mit dem Planeten Venus, der im fünften Grad Sternzeichens Waage steht, habe ich mich immer vertraut gefühlt und wenn er an diese Position kommt, nimmt immer meine Empfänglichkeit für die Liebe zu, wie die Astrologie sagt.
Aber kann man es nur für einen Zufall halten, daß der Planet Venus, der mich zum ersten Mal in meinem Leben aus dem Schlaf geweckt hat, gerade in der Position dieses Tierkreises stand ? Daß der Planet, der meine Geburt im Kosmos beobachtet hatte, an dem frühen Morgen auch meinen Schlaf beobachtet hat ? Wie er mich von dem tiefen Schlaf im Mutterschoß erwachen sah, so hat er mich aus dem angenehmen Schlaf im Bett erwachen sehen ! Sicher hat er meine süßen Träume beobachtet. Mein Interesse ist von neuem erweckt worden, als ich nach ein paar Jahren in einem Werk von Rudolf Steiner folgendes las :
… [ Die Venus ist ] ungeheuer empfänglich für alles das, was gerade von der Erde kommt. Die Erde ist wirklich der Liebhaber der Venus in einem gewissen Sinne. … Sie spiegelt liebevoll alles zurück, was von der Erde kommt. Man hat die ganze Erde mit allen ihren seelischen Geheimnissen noch einmal, wenn man mit dem Seelenauge die Geheimnisse der Venus belauscht. Es ist schon so, daß die Menschen auf Erden im Grunde nichts Rechtes im Geheimen ihrer Seele tun können, ohne daß es für denjenigen, welcher der Sache nachgeht, von der Venus herabgespiegelt wird. Sie schaut den Leuten allen tief ins Herz hinein, denn das interessiert sie, das läßt sie an sich herankommen. Also man hat alles, was im Intimsten auf der Erde lebt, auf der Venus noch einmal, und in einer Widerspiegelung, die merkwürdig ist. Sie verwandelt eigentlich in der Widerspiegelung alles so, wie der menschliche Traum die äußeren Ereignisse des physischen Lebens verwandelt. Sie nimmt die irdischen Ereignisse und verwandelt sie in Traumbilder. So daß eigentlich der ganze Gang, den die Venus um die Erde herum macht, diese ganze Sphäre der Venus, eigentlich eine Träumerei ist. Und in den mannigfaltigsten Traumgebilden leben die traumhaft verwandelten irdischen Menschengeheimnisse. … ( aus Rudolf Steiner GA. Nr. 228, “ Initiationswissenschaft und Sternerkenntnis “, S.18-19 )
Hier möchte ich den Brief beenden.Mit herzlichen Grüßen
Sumiaki