Der Tod eines Eichhörnchens
31.12.1995
Am 22. Dezember starb unser Eichhörnchen. Für die Tiere, die den Winterschlaf halten können, ist der Tag, die Wintersonnenwende, wie die Mitternacht. Unser Lieblingstier, das vierundeinhalb Jahre gelebt hat, hielt bis letztes Jahr keinen Winterschlaf, aber dieses Jahr nach monatlängiger langsamer Schwächung den ersten und letzten. Das heißt, das Tier wurde in der späten Nacht der Wintersonnenwende, nämlich in der echten Mitternacht für das Tier, so stark vom Schlaf übermannt, daß es daraus nie erwachen sollte. Ich stelle mir mit Trauer vor, daß sein Schlaf sich wohl zunächst äußerlich vom Winterschlaf nicht unterschied,aber eigentlich völlig anders war als ihn und von Minute zu Minute zum ewigen Schlaf überging.
Das Eichhörnchen wurde, als meine älteste Tochter den zehnten Geburtstag hatte, ihr als Geschenk gegeben, weil sie in der Schule einsam schien. Wir mußten deshalb das Tier drei Tage nach dem Einschlafen vom Tierarzt untersuchen lassen, um sie von seinem Tod zu überzeugen.
Das kleine Geschöpf hat uns jeden Lebensabschnitt gezeigt, von der lebendigen finken Jugend bis zum langsamen faulen Alter. Diesen ganzen Verlauf konnte man von dem beschleunigten Leben übersehen. Vor allem bei dem letzten armen Leben mußte ich an das menschliche Alter, auch an meinen zukünftigen Lebensabschnitt denken. Vor dem Tod kroch das Tier ein paar Tage spät morgens aus seinem Nistkasten und nagte mit den wegen der letzten kalten Nacht noch halb betäubten Gliedern und zitternden Rückenhaaren an einem schmalen Stück Apfel. Seine Augenlider waren dabei halb geschlossen, und eine Schwellung an seinem mageren OberKörper, hinter der das Herz wahrscheinlich lag, pulste, während sich das ganze Haar am Rücken damit synchronisch wellte. Aber wenn es nachmittags in dem Zimmer vom Sonnenlicht wärmer wurde, in dem der Käfig stand, begann der Zustand des Tiers besser zu werden, und es saß auf dem Rand seines Futterhäuschens, um einen Samen der Sonnenblume mit beiden Händen zu fassen. Es saß am Tag seines Todes so ein oder zwei Stunden lang, anscheinend ohne einen anderen Saamen fressen zu können, bis es endlich wieder in sein Kistkasten zurückging.
Die vierundeinhalb Jahre waren für das Tier ein ganzes Leben, aber für meine Tochter ihr Wachstum von einem empfindlichen kleinen Mädchen zu einem selbstbewußten ruhigen jungen Dame. Ihre schöne Jugend fängt erst an.
Aber meine Trauer ist durch die Lebenskräfte, die sie und ihre jüngeren Schwesterchen ausstrahlen, nicht völlig vertrieben. Das kommt wahrscheinlich erstens daher, daß ich selbst nicht mehr jung bin, und zweitens daher, daß ich weiß, es handelt sich eigentlich nur um die Beschleunigung des Lebens. Das Alter kommt bei Menschen nur langsamer als Eichhörnchen. Die goldene herzensreine Kindheit vergeht schnell, die Schönheit eines Mädchens verschwindet mit der Zeit. Das alte Problem des Lebens, die Krankheit, das Alter und der Tod.
Ich will trotzdem versuchen, in allem Vergänglichen etwas Ewiges zu finden, etwas, was dieses Leben auf Erden wertvoll macht. Nicht nur durch Verstand, sondern auch seelisch möchte ich von der Ewigkeit überzeugt sein.