Der Tod einer Gelehrten
Herbst 1989
Frau Professor Kayoko Kobayashi starb im 46. Lebensjahr am 18. September 1989. Die Nachricht ihres Todes hat mich schockiert. Die letzten Jahre habe ich mit ihr fast keinen Kontakt gehabt und von ihrer Krankheit nichts gewußt. Bis ich die Nachricht bekam, blieb sie für mich, was sie vor ein paar Jahren war, nämlich sehr gesund, lebensvoll und aktiv, obwohl körperlich sehr klein. Sie war auch so freundlich und gewissenhaft, so objektiv und gelassen, daß etwas Ähnliches wie Wärme von ihr aus zu strahlen schien und man bei ihr eine Art Sicherheitsgefühl hatte. Ihre Wesensart war also in mir sehr klar und selbstverständlich. Ich konnte daher nicht sofort real fühlen, daß sie nicht mehr auf Erden ist und aus dieser Welt verschwunden ist.
Seit 1985 habe ich mit ihr nur einmal jährlich eine Neujahrskarte nach japanischer Tradition gewechselt und sonst keinen Kontakt gehabt. Das kam daher, daß ich aufhörte, die Komazawa-Universität, an der sie tätig war, als Lehrbeauftragter zu besuchen, damit ich mich intensiver mit der Lehrtätigkeit an meiner Hochschule beschäftigen konnte. Es gibt einige Leute, zu denen man ohne häufige Kontakte unverändertes Vertrauen halten kann. Sie war eine Bekannte solcher Art.Ihr Dasein war in mir immer so sicher und deutlich. Ich war davon tief beeindruckt worden, daß sie immer an andere dachte, für Schwächere sorgte, und für diese stand. Als Germanistin hat sie viele Forschungen hauptsächlich über die Gequälten im Zweiten Weltkrieg geleistet, und ihre Leistungen, die von dem humanistischen Aspekt und der objektiven Sicherheit erfüllt waren, waren hoch geschätzt. Also, obwohl ich sie lange nicht sah, konnte ich ihr Bild lebendig behalten, und mich daran erinnern, wie sie kräftig aber mit Wärme sprach. Umsomehr wurde ich wieder schockiert, als wir ihre schwache stammelnde Stimme durch die Kassette hörten, die sie vor ihrem Tod aufnehmen ließ, um von den Teilnehmern an ihrem Begräbnis Abschied zu nehmen. Darin sprach sie auch ruhig, obwohl schwach und stockend, über ihren Krankheitszustand, den bisherigen Verlauf des Brustkrebses, die wider ihren Willen unvollendeten Forschungen, und den nie zu Erfüllenden Wunsch, wieder ins Grüne zu fahren und frische Luft einzuatmen, und besonders über die Sorgen um die zurückgebliebene Familie, ihren liebsten Mann, dessen alte Eltern und ihren Vater. Sie schloß ihre qualvolle Rede mit dem Datum, woraus ich erfuhr, daß diese Worte etwa vier Monate vor ihrem Tod aufgenommen wurden. In dieser Zeit konnte sie schon ihre geschwollenen Arme nicht mehr bewegen, daher ließ sie ihre Worte auf Tonband aufnehmen. Nach der Aufnahme hat sie sicher ihre Stimme verloren, das konnte ich aus der Art ihrer Rede vermuten, in der sie sagte, daß ihr Hals wegen der Radiotherapie geschwollen sei.
Während ich ihre Rede hörte, wurden meine Augen manchmal feucht. Sie arbeitete immer emsig und bereitete sich ernst auf alles vor, was sie übernahm. Das weiß ich aus der vor über zehn Jahren mit ihr gemachten Mitarbeit zum Verfassen eines Lehrbuches und aus der danach andauernden Freundschaft. Ihre Tendenz hielt auch bei ihrem Tod an. Sie bereitete sich auf ihren nach kurzer Zeit kommenden Tod vor und tat wie auch sonst ihr Bestes, was aber bei mir nur Trauer auslöste. Zu traurig empfand ich ihre Bemühung. Unerträglich war mir diese Situation, im Saal die Stimme der Sterbenden hören zu müssen.
Aber ich dachte, daß ich den Tod, wie sie starb, einfach in mich aufnehmen mußte. Daß ich jetzt letzte Worte einer einmaligen Frau, eines wunderschönen Geistes hörte. Sie, wie sie so aktiv und energisch war, mußte doch jetzt auch verschwinden. Sie litt also eine existentielle endgültige Qual. Ich persönlich glaube an das Leben nach dem Tod, aber in jedem Fall mußte sie diese Welt verlassen, ohne das bis zu Ende führen zu können, was sie auf Erden angefangen hatte.
Ich verließ den Saal, im Kopf ihre Worte und einige für ihren Tod gehaltenen Trauerreden, die manchmal wegen des Schluchzens auch unterbrochen wurden. Ich muß mich aber aus der Trauer herausreißen. Also ich wünsche, daß sie nach dieser Qual ewige Ruhe finden und von Herrlichkeiten umgeben sein wird. Ich selbst überschreite die Schwelle früher oder später. Wie eine Trauerednerin sagte, möchte ich ihr auch sagen, “ Auf Wiedersehen”.