Eine Erinnerung an meine Mutter16. April 2000
Meine Mutter ist jetzt im Himmel. Sie ist dort umgeben von all ihren Geschwistern, ihren Brüdern Ieki und Kuniki, ihren Schwestern Haru und Reki, und natürlich auch von ihren Eltern und Ureltern - d.h. von allen älteren Familienangehörigen, - sie war die jüngste Tochter ihrer Eltern.
Doch meine Mutter ist im Jenseits auch von einem jüngeren Familienmitglied, ihrem eigenen ersten Kind Mirei begleitet. Mirei war für mich eine Schwester, die vier Jahre vor meiner Geburt das Diesseits verlassen hatte. Sie starb mit drei Jahren an Diphtherie, einer infektiösen Halserkrankung. Meine Eltern hatten damals kein anderes Kind mehr als eine um ein Jahr und acht Monate jüngere Tochter. Doch bald darauf kamen noch eine weitere Tochter und zwei Söhne, mein Bruder und ich zur Welt.
Ich kann die Trauer meiner Eltern um ihr früh verstorbenes Kind nicht völlig nachvollziehen. Nur wer eine ähnliche Tragödie erfahren hat, kann nachvollziehen, wie tief die Trauer war. Auf jeden Fall kennen wir Kinder unsere "älteste" Schwester nur im gerahmten Foto oder im Fotoalbum. Wir wuchsen in einer besonderen Atmosphäre auf, die uns ab und zu feststellen ließ, daß von unseren Eltern immer ein Familienmitglied vermißt wurde. Wir spürten immer eine Abwesenheit.
Ich erinnere mich noch gut daran, daß mein Vater und meine Mutter oft miteinander darüber sprachen, wie alt Mirei wäre, wenn sie noch am Leben wäre. In ihren Gedanken lebte sie weiter, erwuchs und wurde erwachsen.
Wir wurden von unserer Mutter gut gepflegt, wenn wir krank wurden. Unser Hausarzt wurde gerufen und immer von ihr gefragt, ob wir nicht an einer schlimmen Halserkrankung litten. Nachdem er unser Haus verlassen hatte, blieb unsere Mutter bis tief in die Nacht an unserer Seite, maß unsere Körpertemperatur und ließ uns die vom Arzt verschriebenen Arzneien einnehmen. Sie legte sich neben uns auf die Matte, schlummerte nur von Zeit und Zeit und wechselte den Eisbeutel auf unserer Stirn, bis der Morgen dämmerte. Sie wiederholte diese aufopfernde Pflege, bis wir wieder völlig gesund waren. Wir waren einfach an ihre viele Liebe gewöhnt und dachten nicht daran, was sie früher verloren hatte.
Die Zeit verging und ich wurde selber Vater zweier Töchter. Ich erinnere mich noch an eine sehr peinliche Situation, in der meine Eltern nach dem Altersunterschied zwischen meinen beiden Töchtern fragten, als die älteste drei Jahre alt war. Ich rechnete und antwortete: Ein Jahr und acht Monate. Meine Eltern tauschten miteinander einen Blick und schwiegen. Ich wußte sofort, was sie dachten und fand es nur unangenehm. Die Trauer meiner Eltern sollte von mir nachvollzogen werden können, ist Mirei doch meine Schwester. Doch leider war dem nicht so, und ich dachte stattdessen nur an das Glück meiner ältesten Tochter.
Meine Mutter zählte Mireis Lebensjahr weiter, bis sie selbst starb. Mirei war inzwischen "53 Jahre alt" geworden. Nach 50 Jahre langer Trauer konnte sie endlich ihre verstorbene Tochter Mirei im Himmel wiedersehen.
Heute jährt sich der Tod meiner Mutter zum sechsten Male.